100 Jahre nach Max von Laue – Phasenübergänge und parametrisierte Symmetriemoden: Innovative Methoden in der Kristallographie

Forschungsbericht (importiert) 2012 - Max-Planck-Institut für Festkörperforschung

Autoren
Dinnebier, Robert. E.; Etter, Martin
Abteilungen
Wissenschaftliche Servicegruppe "Röntgenographie"
Zusammenfassung
Die Kristallographie hat seit den ersten Beugungsaufnahmen von Max von Laue vor 100 Jahren eine enorme Entwicklung durchlebt. So erlauben ortsempfindliche Detektoren und strahlungsintensive Synchrotron- und Neutronenquellen Pulverdiffraktogramme mit hoher Zeitauflösung aufzunehmen. Gerade diese hohe Auflösung erlaubt es, Phasenübergänge in Festkörpern direkt zu beobachten und diese mittels neuer Analysemethoden wie der Kopplung von Symmetriemoden und parametrischer Rietveld-Verfeinerung zu untersuchen.

Phasenübergänge in Festkörpern

Anders als bei den bekannten Phasenumwandlungen aus unserem Alltag bedeutet ein Phasenübergang in einem Festkörper nicht, dass sein Aggregatzustand geändert wird. Er bleibt als Festkörper erhalten, auch wenn er durch einen Phasenübergang Eigenschaften gewinnen oder verlieren kann. So kann er zum Beispiel beim Unterschreiten einer gewissen kritischen Temperatur magnetisch werden, oder ab einem bestimmten Druck und/oder einer bestimmten Temperatur die Kristallstruktur verändern (z. B. Graphit zu Diamant, Zinnpest). All dies sind Phasenübergänge die durch Änderung einer intensiven Variablen auftreten können.

Generell kann man in der Natur zwei verschiedene Arten von Phasenübergängen beobachten: den Phasenübergang 1. Ordnung und den Phasenübergang 2. Ordnung. Diese Klassifizierung geht auf Paul Ehrenfest zurück, der die Ordnung nach dem ersten Auftreten einer Unstetigkeit in der Ableitung des thermodynamischen Potenzials definierte. Für einen Phasenübergang 1. Ordnung bedeutet dies also, dass in einer abgeleiteten Variablen aus dem thermodynamischen Potenzial am Phasenübergang ein Sprung auftritt. So lässt sich zum Beispiel für den Phasenübergang von Wasser und Eis ein Sprung im Volumen bei der gleichen Temperatur, dem sogenannten Schmelzpunkt, beobachten. In der Regel stellt also der Wechsel eines Aggregatzustandes zu einem anderen einen Phasenübergang 1. Ordnung dar.

Für einen Phasenübergang 2. Ordnung findet man eine solche Diskontinuität bei der ersten Ableitung nicht. So nimmt zum Beispiel der Wert der Magnetisierung eines (anti-)ferromagnetischen Festkörpers mit zunehmender Temperatur langsam aber stetig ab, bis er bei der kritischen Temperatur ganz auf Null gesunken ist. Oberhalb der kritischen Temperatur bleibt er Null und ändert sich nicht mehr.

Den Versuch einer mathematischen Beschreibung dieser Phänomene stellt die phänomenologische Landau-Theorie dar. Dabei wird das thermodynamische Potenzial in der Nähe des Phasenübergangs als Reihenentwicklung, dem sogenannten Landau-Potenzial, dargestellt, welches von einem Ordnungsparameter abhängt. Dieser Ordnungsparameter ist in der hochsymmetrischen Phase – wie im obigen Beispiel beschrieben – Null und nimmt darunter in der niedersymmetrischen Phase einen endlichen Wert an (Abb. 1). Da das Auftauchen des Ordnungsparameters dabei den Übergang von einer höhersymmetrischen zu einer niedersymmetrischen Phase kennzeichnet, sprich man hierbei auch von einem spontanen Symmetriebruch.

Für Phasenübergänge 2. Ordnung, welche in Festkörpern besonders interessant sind, vereinfachen Symmetriebedingungen zudem die Reihenentwicklung und es bleiben nur gerade Potenzen übrig. Da das thermodynamische Potenzial einer Energiegleichung entspricht, lässt sich nun in Abhängigkeit vom Ordnungsparameter nach dem Energieminimum suchen, welches die Natur immer annehmen möchte. Dabei zeigt sich, dass der Ordnungsparameter unterhalb der kritischen Temperatur sehr gut mit einem Exponentialgesetz beschrieben werden kann, welches für die im Folgenden beschriebene parametrische Anpassung der kristallographischen Daten eine wichtige Rolle spielt.

Symmetriemoden

Wie eng die Symmetrie eines Festkörpers mit dem Ordnungsparameter verknüpft ist, zeigt sich im Konzept der Symmetriemoden. Unter Zuhilfenahme der Darstellungstheorie lässt sich zeigen, dass man sogenannte Basisfunktionen oder auch Symmetriemoden irreduzibler Darstellungen finden kann, die jede noch so komplizierte Kristallstruktur als Tochterstruktur einer höhersymmetrischen Struktur darstellen können [1].

Dabei entspricht die Amplitude einer oder mehrerer solcher Symmetriemoden, einem Ordnungsparameter, welcher dann in der Lage ist, eine Phasenumwandlung durch das Auftauchen magnetischer, elastischer, Verschiebungs- oder Besetzungseigenschaften direkt zu beschreiben. Aus dieser Tatsache folgt automatisch, dass in der höhersymmetrischen Phase die Amplitude dieser Symmetriemoden Null ist und in der niedersymmetrischen Phase einen endlichen Wert annimmt (Abb. 2).

Diese Methode hat für die Kristallographie zwei entscheidende Vorteile. Zum einen kann sich die Anzahl der Parameter, die zu Beschreibung einer Kristallstruktur nötig sind, reduzieren, zum anderen lässt sich der Wert des Ordnungsparameters in Abhängigkeit einer intensiven Größe direkt bestimmen. Phasenumwandlungen können somit direkt mit kristallographischen Methoden, physikalisch wie auch chemisch sinnvoll, beschrieben werden.

Rietveld-Methode und Parametrisierung

Bereits kurz nach den ersten Pulverbeugungsexperimenten von Debye und Scherrer (1916) sowie Hull (1917) war klar, wie vielversprechend diese Methode sein könnte, um Materialien unter Nichtgleichgewichtsbedingungen zu untersuchen (z. B. Vegard, 1929 [3]). Allerdings konnten zu diesem Zeitpunkt aufgrund der langen Bestrahlungs- und Belichtungszeiten nur sehr langsame Prozesse in-situ beobachtet werden. Insbesondere der interessante kritische Phasenübergangspunkt, an dem sich Strukturparameter rasch ändern, blieb so den Forschern zunächst verschlossen. Diese Situation änderte sich erst in den 1980er-Jahren mit dem Einsatz schneller ortsempfindlicher Detektoren und strahlungsintensiver Synchrotron- und Neutronenquellen. Ab diesem Zeitpunkt war es möglich, Pulverdiffraktogramme mit hoher Zeitauflösung aufzunehmen.

Bevor jedoch die Temperatur- und/oder Druckabhängigkeit [4] des Ordnungsparameters am Phasenübergang untersucht werden kann, muss zunächst die Kristallstruktur präzise bestimmt werden. Eine geeignete Methode hierfür stellt die Rietveld-Verfeinerung [5] dar, bei der mit hoher Genauigkeit die kristallographischen Parameter wie zum Beispiel die Atompositionen angepasst werden können. Dabei wird auf die sogenannte Kleinste-Quadrate-Methode zurückgegriffen, bei der die Differenz zwischen dem errechneten und dem gemessenen Pulverbeugungsdiagramm minimiert wird (Abb. 3).

Da sich einige Parameter in der Rietveld-Verfeinerung aber kontinuierlich in Abhängigkeit von Druck und/oder Temperatur ändern, kann man diese als globale Parameter betrachten, welche mit einer mathematischen Funktion beschrieben werden können.

Werden nun alle Pulverdiffraktogramme einer kristallographischen Phase simultan verfeinert, so kann man die Anzahl der benötigten zu verfeinernden Parameter drastisch reduzieren und die Stabilität der Verfeinerung dadurch erhöhen. Diese Art der Verfeinerung wird Flächenverfeinerung oder auch parametrische Rietveld-Verfeinerung genannt [6]. Hier kommt nun auch der Zusammenhang mit der Landau-Theorie ins Spiel, da im Falle eines Phasenübergangs 2. Ordnung das oben erwähnte Exponentialgesetz verwendet werden kann, um den Verlauf eines oder mehrerer Parameter mit der intensiven Variable zu beschreiben.

Nebenbei hat diese Art der Parametrisierung den Vorteil, dass mögliche Korrelationen zwischen einzelnen Parametern auf physikalische Zusammenhänge zurückgeführt werden können und dass die Standardunsicherheit beim Bestimmen der einzelnen Parameter abnimmt.

Parametrisierte Symmetriemoden zur Untersuchung von CsFeO2

Die Bestimmung der oben erwähnten Symmetriemoden und deren Einbettung in eine parametrische Rietveld-Verfeinerung lassen sich gut am Beispiel des Oxoferrats CsFeO2 erläutern [7]. Ausgehend von einer kubischen Hochtemperaturphase zeigt das Material beim Abkühlen bei 79°C einen Phasenübergang in eine orthorhombischen Kristallstruktur. Dieser Phasenübergang wird als sogenannter ferroelastischer Phasenübergang bezeichnet, da die Umwandlung von der einen in die andere Kristallstruktur durch eine spontane makroskopische Spannung beschrieben werden kann.

Zur Beschreibung der Einheitszelle der kubischen Phase benötigt man 32 Atome, die alle auf fixen Positionen sitzen, wohingegen sich die orthorhombische Struktur durch 64 Atome mit insgesamt 24 Freiheitsgraden beschreiben lässt. Da die traditionellen Atomkoordinaten mit den Symmetriemoden über eine lineare Transformation zusammenhängen, lässt sich die maximale Anzahl der Symmetriemoden direkt über die Anzahl der Freiheitsgrade bestimmen (siehe auch Tabelle in Abb. 2). Somit erhält man insgesamt 24 Symmetriemoden, von denen 10 ausreichen, um den Phasenübergang sinnvoll zu beschreiben. Hinzu kommen noch 3 zusätzliche Symmetriemoden, die die Gitterspannung beschreiben. Diese insgesamt 13 Symmetriemoden lassen sich nun auf 6 Ordnungsparameter reduzieren, welche alle einem individuellen Exponentialgesetz folgen.

Es zeigt sich, dass die Gitterparameter und ebenso die makroskopischen Spannungen unterhalb der kritischen Temperatur diesem Exponentialgesetz folgen (Abb. 4), wohingegen oberhalb der kritischen Temperatur, die makroskopischen Spannungen Null sind und die Gitterparameter aufgrund der thermischen Ausdehnung linear mit der Temperatur zunehmen.

Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll wie innovativ die Verbindung dieser beiden Methoden der Symmetriemoden und der parametrischen Rietveld-Verfeinerung ist. Phasenübergänge lassen sich somit in Echtzeit direkt mittels Pulverdiffraktometrie in-situ untersuchen und die Kristallographie liefert dann eine sinnvolle physikalische Beschreibung des Phasenübergangs, in dem das Verhalten des Ordnungsparameters ausgewertet wird. Dabei ist das Potenzial dieser Methode bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Bedingt durch die stetige Verbesserung von Messapparaturen, Computern und Software wird erwartet, dass in nicht allzu ferner Zukunft weitaus komplexere Phasenübergänge routinemäßig mit diesem Verfahren analysiert werden können.

Literaturhinweise

1.
Bradley, C. J.; Cracknell, A. P.
The mathematical theory of symmetry in solids: representation theory for point groups and space groups
Oxford University Press, 2010, ISBN 978-0-19-958258-7
2.
Campbell, B. J.; Stokes, H. T.; Tanner, D. E.; Hatch, D. M.
ISODISPLACE: a web-based tool for exploring structural distortions
Journal of Applied Crystallography 39, 607-614 (2006)
3.
Vegard, L.
Die Struktur derjenigen Form von festem Stickstoff, die unterhalb 35,50 K stabil ist
Zeitschrift für Physik 58, 497-510 (1929)
4.
Halasz, I.; Dinnebier, R. E.; Angel, R.
Parametric Rietveld refinement for the evaluation of powder diffraction patterns collected as a function of pressure
Journal of Applied Crystallography 43, 504-510 (2010)
5.
Rietveld, H. M.
A profile refinement method for nuclear and magnetic structures
Journal of Applied Crystallography 2, 65-71 (1969)
6.
Stinton, G. W.; Evans, J. S. O.
Parametric Rietveld refinement
Journal of Applied Crystallography 40, 87-95 (2007)
7.
Müller, M.; Dinnebier, R. E.; Ali, N. Z.; Campbell, B. J.; Jansen, M.
Direct access to the order parameter: parameterized symmetry modes and rigid body movements as a function of temperature
Materials Science Forum 651, 79-95 (2010)
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