Handschlag der Moleküle
Wissenschaftler verfolgen auf der atomaren Skala, wie einzelne Moleküle einander erkennen
Leben ist Teamarbeit im großen Stil: Im menschlichen Körper werkeln tausendmal mehr Moleküle Hand in Hand als Sterne im Weltall leuchten. Wie Moleküle ihre Kooperationspartner erkennen, hat nun ein internationales Wissenschaftlerteam um Forscher vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung beobachtet. Sie verfolgten mit einem Rastertunnelmikroskop, wie sich zwei chirale Dipeptid-Moleküle zu einem Dimer zusammenschlossen. Solche Moleküle liegen wie die allermeisten Moleküle in unserem Körper in zwei spiegelbildlichen Formen vor, die sich wie die rechte und linke Hand nicht zur Deckung bringen lassen. Damit die Dipeptide stabile Paare formen und Biomoleküle die Lebensprozesse aufrecht erhalten können, müssen sich die Moleküle mit passenden Formen erkennen. Wie die Forscher nun herausgefunden haben, verändern sie sich dabei leicht - wie zwei Hände, die sich umeinander schließen. Nach dem Prinzip dieses molekularen Handschlags entstehen darüber hinaus komplexe Materialstrukturen. Die neuen Erkenntnisse helfen auch zu verstehen, wie sie sich im Detail bilden. (Angewandte Chemie, 20. April 2007)
1027 Moleküle mit nahezu Hunderttausend unterschiedlichen Formen machen unseren Körper zu dem, was er ist. Jedes Molekül trägt eine strukturelle Information, welche die Wechselwirkung mit anderen Molekülen bestimmt und somit die Funktionen des Körpers aufrecht halten lässt. Sie vermitteln den Befehl, dass unsere Muskeln kontrahieren. Sie sorgen dafür, dass wir unsere Nahrung effizient verwerten. Und sie lassen Gedanken entstehen. Das internationale Forscherteam, in dem Wissenschaftler aus dem Stuttgarter Max-Planck-Institut vom Fraunhofer Institut für Werkstoffmechanik in Freiburg und dem King’s College in London zusammenarbeiteten, hat nun untersucht, auf welche Weise sich Moleküle erkennen und wie die im Molekül gespeicherte Information zum Aufbau von komplexen Strukturen verwendet wird.
Die Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung haben mit einem Rastertunnelmikroskop im Detail verfolgt, wie zwei Diphenylalanin-Moleküle miteinander wechselwirken, während sie sich aneinanderlagern. Den Prozess hielten die Forscher in Bildsequenzen fest. Aus diesen geht hervor, dass sich nur Moleküle gleicher Chiralität bereitwillig zu Paaren und Ketten zusammenschließen.
Der Begriff der Chiralität leitet sich vom griechischen Wort für Hand ab und beschreibt Moleküle, die wie die linke und rechte Hände in zwei Formen existieren: der rechtshändigen (D-) und der linkshändigen (L-) Form. Sie lassen sich räumlich nicht zur Deckung bringen - im Bild der Hand gesprochen liegen entweder die Handflächen beziehungsweise -rücken aufeinander oder die Daumen zeigen in entgegengesetzte Richtungen. Und nur zwei rechte (oder zwei linke) Hände greifen beim Handschlag passgenau ineinander. Genauso formen auch nur zwei Moleküle derselben chiralen Form eine stabile Struktur.
Wenn Moleküle der rechtshändigen oder linkshändigen Form zueinander finden, sprechen Chemiker von chiraler Erkennung. Sie ist für alle Prozesse in unserem Körper von großer Bedeutung. Denn ein wesentlicher Teil der Information, die etwa Eiweiße bei biochemischen Prozessen austauschen, steckt in der Chiralität, also der exakten räumlichen Anordnung der Molekülbausteine: Ein chirales Molekül kann andere Moleküle mit derselben Chiralität entsprechend den möglichen Kombinationen D/D bzw. L/L erkennen, wohingegen die Kombinationen L/D oder D/L ausgeschlossen sind.
Wie beim Händeschütteln reicht es aber nicht, dass die Moleküle in der komplementären Gestalt zweier rechter oder linker Hände vorliegen. Denn auch Hände greifen nur dann vollständig ineinander, wenn sie sich umeinander schließen. Die Wissenschaftler konnten jetzt erstmals nachweisen, dass sich auch die Formen der beiden Dipeptide bei ihrem molekularen Händedruck dynamisch aneinander anpassen. Dabei induzieren die Moleküle wechselseitig eine Änderung ihrer Konformation. Zu diesem Ergebnis gelangte das Wissenschaftler-Team nicht nur, indem sie den Prozess rastertunnelmikroskopisch untersuchten, sondern auch weil Theoretiker am King’s College in London und am Fraunhofer Institut für Werkstoffmechanik in Freiburg ihn rechnerisch modellierten.
Der Mechanismus chiraler Molekülerkennung, den die Forscher an den Dipeptid-Molekülen beobachteten, trägt wesentlich dazu bei, die Basisschritte der Evolution genauer zu verstehen. Zugleich helfen die Erkenntnisse künstliche, komplexe Materialien mit spezifischen Funktionen zu entwickeln.