Eine Lücke in der Supraleitung
Stuttgarter Physiker entdecken eine Eigenschaft von Supraleitern, die sich mit der gängigen Theorie nicht erklären lässt
Das Problem gilt seit gut 50 Jahren als gelöst - offenbar aber nur weil es noch nicht ganz zu erkennen war: Schon 1957 erklärten John Bardeen, Leon N. Cooper und John R. Schrieffer, warum einfache Metalle unterhalb einer bestimmten Temperatur Strom verlustfrei leiten. Nun haben Physiker vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung noch einmal genauer untersucht, wie sich Elektronen in den Metallen Blei und Niob in diesem supraleitenden Zustand verhalten. Dabei haben sie ein bislang verborgenes Detail der Fermi-Fläche entdeckt, die die Energieverteilung der Elektronen beschreibt. Wenn die Elektronen den supraleitenden Zustand annehmen, bildet sich in der Fermi-Fläche eine Lücke aus, das heißt die Energieverteilung ändert sich. Die Physiker fanden jetzt heraus, dass die Größe der Energielücke von der Gestalt der Fermi-Fläche abhängt. Bislang galten diese beiden Eigenschaften als unabhängig voneinander, und mit der seit 50 Jahren akzeptierten Theorie lässt sich deren innerer Zusammenhang auch nicht erklären. (Science advanced online publication, 22. Februar 2008)
Es gibt keine gesunden Menschen, sondern nur schlecht untersuchte - behaupten manche Ärzte. Vielleicht krankt auch manche physikalische Theorie unerkannt, solange sie sich nicht genau genug prüfen lässt. Bei der BCS-Theorie ist das offenbar der Fall. Sie verdankt ihren Namen den Initialen der drei Physiker Bardeen, Cooper und Schrieffer und beschreibt die konventionelle Supraleitung in Metallen. Demnach sparen ihre freien, Strom leitenden Elektronen unterhalb einer bestimmten, sehr niedrigen Temperatur Energie, wenn sie sich zu Cooper-Paaren zusammenschließen. Zusammengetrieben werden sie von den Schwingungen des Kristallgitters. Als Paare können sich durch das Metallgitter bewegen, ohne mit dessen Atomen zusammenzustoßen.
Um die Bindung eines Cooper-Paares zu brechen, ist eine bestimmte Energie nötig. Physiker sprechen davon, dass die Elektronen eine energetische Lücke überspringen müssen. Diese Lücke tut sich erst bei der kritischen Temperatur auf, bei der ein Metall seinen Widerstand verliert. "Wir haben bei den Metallen Blei und Niob sehr schön gesehen, wie sich die Energielücken unterhalb der kritischen Temperatur öffnet", sagt Bernhard Keimer, Direktor am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung und Leiter der Studie.
Gleichzeitig beobachteten die Physiker in den beiden Metallen ein Phänomen, das bislang als völlig unabhängig von der Supraleitung galt. Aus ihren Messergebnissen können sie nämlich auch Rückschlüsse ziehen, wie die Fermi-Fläche des Metalls im Detail aussieht. Dabei zeichnen sie eine Reliefkarte, in der Elektronen mit einem bestimmten Impuls oder einer bestimmten Geschwindigkeit eine Energie zugeordnet wird - Berge stehen für viele Elektronen, Täler für wenige. In dieser Karte fanden sie nun bislang unbekannte Hügel - die dort auch niemand erwartet hat.
Diese Hügel nennen Physiker Kohn-Anomalien. An diesen Stellen lassen sich Elektronen besonders leicht von schwingenden Atomen anstoßen, weil sie einen passenden Impuls tragen - in etwa so wie ein Kind beim Schaukeln die Beine auch im passenden Rhythmus bewegen muss, um Schwung zu gewinnen. Den Messergebnissen der Physiker zufolge wächst die Energielücke im supraleitenden Zustand nur so weit an, dass Elektronen mit genau diesen Impulsen oder Energien keine Cooperpaare bilden können. "Dass die Kohn-Anomalien mit den Energielücken zusammenfallen, kann kein Zufall sein, weil sie sowohl in Blei als auch in Niob zusammentreffen", erklärt Bernhard Keimer: "Ohne die Kohn-Anomalie würden die Metalle möglicherweise bei höheren Temperaturen supraleitend."
Bisher ließen sich weder die Auswirkungen der Energielücke noch die der Kohn-Anomalien auf die Gitterschwingungen messen. Gelungen ist das den Stuttgarter Physikern nun, weil sie auf besonders feinfühlige Weise, nämlich mit Hilfe der Spin-Echo-Neutronenstreuung, die Schwingungen der Metallatome messen können: Sie stoßen die Atome zunächst mit Neutronen an - ungeladenen Kernbausteine, die sie auf ihre Probe feuern. Diese Neutronen kann man sich als rotierende Kreisel vorstellen. Keimer und seine Mitarbeiter haben dafür gesorgt, dass die Achsen aller Neutronenkreisel parallel angeordnet sind und sie sich alle in die gleiche Richtung drehen - sie haben die Neutronen spinpolarisiert, wie es im Jargon der Physiker heißt.
Je nach dem, wie lange die angestoßenen Atome schwingen, ist die Ordnung der Spins am Ende der Messapparatur mehr oder weniger durcheinandergeraten. Völlig spinpolarisiert bleiben die Neutronen, wenn die angestoßenen Metallatome unendlich lange schwingen. Das tun sie aber nur, wenn sie nicht mit den Elektronen zusammenstoßen, die sich frei durch das Metall bewegen. Und das wiederum ist nur der Fall, wenn die Elektronen supraleitende Cooper-Paare bilden.
Die Kohn-Anomalien verraten sich durch das genaue Gegenteil: Sie dämpfen die Gitterschwingungen und bringen die Neutronenspins daher recht stark durcheinander. Von der Dauer der Gitterschwingungen schließen die Physiker auf die energetischen Verhältnisse in ihren Proben - und erhalten ein mehr als 1000-fach detaillierteres Bild als es die gewöhnliche Neutronenstreuung liefert.
"Diese besonders präzise Messmethode hat uns neue Erkenntnisse über Materialien geliefert, von denen wir dachten, dass wir sie durch und durch kennen", sagt Bernhard Keimer. Warum Kohn-Anomalien und Energielücken so unerwartet zusammenfallen, wissen die Physiker noch nicht. "Darüber können wir nur spekulieren", so Keimer. Möglicherweise tendieren die Elektronen beider Metalle dazu, periodische Ladungsdichte-Modulationen auszubilden. Dabei verteilen sich die Elektronen nach einem bestimmten Muster - ein Effekt, der mit der Supraleitung konkurriert, aber schon im Zusammenhang mit Kohn-Anomalien beobachtet wurde. "Sowohl in der Supraleitung als auch in den periodischen Ladungsdichte-Modulation nehmen die Elektronen geordnete Zustände ein, die möglicherweise miteinander wechselwirken", mutmaßt Bernhard Keimer. Um den Zusammenhang letztendlich zu erklären, müssen Physiker wohl die BCS-Theorie erweitern.